Musik als gradueller Prozess

Mit dem Ausdruck «Musik als gradueller Prozess» meint Steve Reich weniger den Prozess des Komponierens sondern vielmehr die Musikstücke, die selber Prozesse darstellen. Auch er zieht Vergleiche zu Prozessen im menschlichen Alltag, um die Gradualität zu erklären: das Rieseln von Sand in einer Sanduhr, eine angestossene Schaukel, die langsam zum Stillstand kommt, Wellen, die Füsse allmählich im Sandstrand begraben. Er entdeckt, experimentiert mit Prozessen und komponiert musikalisches Material mit klaren tonalen Zentren, das er ihnen unterwirft. Wenn die Regeln jedoch feststehen, so läuft der Prozess ganz von allein ab. Steve Reich akzeptiert das Ergebnis. Er ist daran interessiert, den Kompositionsprozess und die erklingende Musik zur Deckung zu bringen. Damit dieser Prozess aber für den Hörer ganz wahrnehmbar ist, muss er laut Reich extrem graduell verlaufen und total kontrolliert sein. Die klanglichen Details sollen jeglichen Intentionen entschwinden und nur noch ihren eigenen akustischen Gesetzen genügen.

«Das Spezifische an musikalischen Prozessen ist, dass sie sowohl das detaillierte Verhältnis von Note zu Note als auch die Gesamtform regeln.»
– Steve Reich

Experimente mit graduellen Prozessen

Für diese Arbeit kristallisiert sich bei verschiedenen Betrachtungen ebenfalls heraus, wie sehr das Konzept eines graduellen Prozesses in der Komposition M418M zum Tragen kommt.

In einer Experimentierphase wurden einige graduelle Prozesse in der Umgebung untersucht (Baumstrukturen, Rauchentwicklung, Verästelung von Adersystemen, Aufsaugen von Flüssigkeit mit einem Schwamm). Diese Prozesse sind fraktal beschreibbar; sie bilden fraktale Muster.

Am vielversprechendsten sind die Experimente mit dem Prozess des Kristallisierens, denn Edgar Varèse hat es als Analogie genannt*, im phänomenologischen weisen die kurzen harten Klänge darauf hin, und im strukturalistischen die fraktale Ordnung des Stücks. Um die Struktur des Kristalls genauer zu untersuchen, wurde ein Versuch gestartet, Kristalle wachsen zu lassen. Dazu wurden abwechslungsweise metallische Salze, Speisesalz und Zucker verwendet.

«Ein bestimmtes Material kann einem nahelegen, welcher Art von Prozess es unterworfen werden soll (Inhalt bedingt Form), und bestimmte Prozesse können einem nahelegen, welche Art von Material ihnen unterworfen werden soll (Form bedingt Inhalt). Wenn der Schuh passt so trage man ihn.»

Grafische Übersetzungen

Wie kann das Morphen von Inhalt durch verschiedene Dimensionen den Gestalter auf neue formelle Ansätze bringen?

Graduelle Prozesse müssen in Sequenzen dokumentiert werden. Beim Züchten der Kristalle wurde zuerst ein Gegenstand erzeugt, seine Form wurde als Fotografie zur perspektivischen atmosphärischen Darstellung, von diesem Stadium weiter abstrahiert zur Vektorlinie. Durch seine Dokumentation in fotografischen Sequenzen mutiert also die Idee des gegenständlichen Objekts zur abstrakten Form auf dem Papier. Die Annäherung von der entgegengesetzten Richtung ist also von der Notiz zur Linie, zur Linie im Raum, zur Fläche und dann zum Objekt.